Wie konnten die Republikaner, die sogenannte Grand Old Party, vier Jahre lang den nachweislich permanent lügenden US-Präsidenten decken? Wie konnten sie selbst nach der offenkundigen Wahlniederlage sein offenkundig hochgefährliches Spiel weiter mitspielen, das Vertrauen in den demokratischen Prozess untergraben? Einige Antworten liefert uns dazu die Sozialpsychologie.
Commitment und Konsistenz
In der Steinzeit mussten sich die Mitglieder der Horde darauf verlassen können, dass die anderen im Einklang mit früheren Verhaltensweisen handeln. Dieses Konsistenzprinzip war für das Überleben in einer bedrohlichen Umwelt entscheidend. Heute wird konsequentes Verhalten mit Stärke, Vernunft, Stabilität und Glaubwürdigkeit gleichgesetzt. Es ermöglicht uns, sich auf andere zu verlassen.
Das Konsistenzprinzip lässt sich aber auch manipulativ einsetzen. Und das geht so: Der Manipulator bringt Menschen zunächst dazu, sich auf eine bestimmte Position oder ein bestimmtes Verhalten festzulegen, d.h., er ringt ihnen ein Commitment (Einverständnis) ab. Anschließend fordert er sie zu einem Verhalten auf, das mit der vorherigen Festlegung im Einklang steht. Meist beginnt er zunächst mit einer kleinen Festlegung, da er sonst Widerstände (kognitive Reaktanzen erzeugt.
Kognitive Dissonanz
Menschen mögen geistige Harmonie in Form von konsistenten Gedanken. Darum wollen sie es vermeiden, in Widersprüche verwickelt zu werden, da diese unangenehme Spannungszustände im Kopf (kognitive Dissonanzen) auslösen. Darum gilt: Sobald wir uns auf eine Position oder ein Verhalten festlegen, neigen wir dazu, uns konsistent zu dieser Festlegung zu verhalten. Wenn dieses Verhalten mit unserem Selbstbild kollidiert, setzen Anpassungsreaktionen im Gehirn ein, die dazu führen, dass wir unsere Einstellung an dieses Verhalten anpassen. Dadurch gelangen wir wieder zu geistiger Harmonie. Dieser Prozess läuft in 7 Schritten ab:
1.) Festlegung → | Zielperson | |
7.) Neues Selbstbild
↑ |
Der Teufelskreis der Selbstrechtfertigung |
2.) Als ob – Verhalten
↓ |
3.) Konflikt ↓ | ||
6.) Nachträgliche Rechtfertigung ← | 5.) Veränderte Einstellung | ← 4.) Anpassungsreaktion |
Commitment und Konsistenz |
Der Teufelskreis der Selbstrechtfertigung
- Festlegung: Mit dem Beginn seiner Präsidentschaft fordert Trump seine Parteifreunden dazu auf, ihm gegenüber loyal zu sein und seinen „alternativen Fakten“ zu folgen. Mit diesem ersten Commitment beginnt der Prozess, mit dem Trump langsam ins Gehirn der Republikaner eindringt.
- Als ob-Verhalten: Die Republikaner lügen für und mit dem Präsidenten. Die Gründe dafür sind die Vermeidung von Rollenkonflikten in der Partei (aus Sicht der Organisation ist es angemessen und erforderlich, die Lügen mitzutragen) und aus eigenem Interesse (wer als Abgeordneter wiedergewählt werden will, ist gut beraten, es sich mit der trumptreuen Basis nicht zu verscherzen). Folge: Die an sich verfassungstreuen Republikaner verhalten sich so, als ob die Lügen des Präsidenten angemessen und gerechtfertigt wären.
- Konflikt: Die bewussten Desinformationen kollidieren mit den Rollennormen eines demokratisch gewählten Politikers. Daraus resultiert eine Dissonanz zwischen der Einstellung („Ich bin demokratisch gewählter und der Wahrheit verpflichteter guter Mensch“) und dem Verhalten („Ich trage offensichtliche Lügen und Verschwörungserzählungen mit“).
- Anpassungsreaktion: Das Großhirn springt an und meldet einen Konflikt. Unser Gehirn verfügt über ein Alarmsystem, das uns auf Fehler (z.B. den E-Mail-Anhang vergessen) und Konflikte (z.B. vor einer gelben Ampel Gas geben oder bremsen) hinweist. Diese Gehirnregion wird als anteriorer cingulärer Cortex (ACC) bezeichnet. Der ACC springt bei Fehlern und Konflikten genauso an wie eine Alarmanlage bei einem Wohnungseinbruch.
- Einstellungsänderung: Das Gehirn löst den Konflikt, indem es eine positive Einstellung zu Trump und seinen Lügen entwickelt. Es passt also die Einstellung an das Verhalten an.
- Nachträgliche Rechtfertigung: Gleichzeitig sucht das Gehirn nach Gründen, um diese Einstellungsänderung vor sich selbst und anderen schönzureden (z.B. „Biden wird den Sozialismus einführen“, „“Wir müssen unsere Basis bei der Stange halten“, „Die Demokraten wollen uns die Freiheit wegnehmen“).
- Neues Selbstbild: Es herrscht wieder Harmonie im Kopf: Die Dissonanz ist aufgelöst. Die Republikaner sind wieder konsistent in Einstellung und Verhalten. Das gibt ein gutes Gefühl – und verbiegt auf Dauer das eigene Weltbild.
Der Sturm aufs Kapitol
Dieser Teufelskreis hat sich in den Köpfen der überwiegenden Mehrheit der Republikaner jahrelang wiederholt. Sie haben gegen ihre eigenen Überzeugungen gehandelt und aus eigennützigen Interessen den Lügner, Betrüger und Ehebrecher Trump schöngeredet. Sie haben alle Abwehrmechanismen gegen die gewaltige kognitive Dissonanz, die das erzeugt hat, permanent auf Hochtouren laufen lassen. Er hat zu dem geführt, was wir am 06. Januar mit ansehen mussten: die Erstürmung des Kapitols, die nach Ansicht des Terrorismusexperten Peter R. Neumann der Beginn einer rechtsterroristischen Bewegung in den USA sein könnte.
Die Medizinerregel
Wie geht ein guter Arzt vor? Er stellt zuerst die Diagnose und verordnet dann die Therapie. Die Diagnose für die Republikanische Partei lautet: Die Grand Old Party hat mit ihrer fortgesetzten Realitätsverweigerung, ihrer Sympathie für Verschwörungstheoretiker und Desinformation das Land an den Rand des Abgrunds geführt. Die Therapie müsste aus vier Schritten bestehen:
- sich eingestehen, dass sie einen gefährlichen, antidemokratischen Demagogen gestützt haben,
- akzeptieren, dass das ein Fehler war,
- sich selbst vergeben,
- ihren Wählern die Wahrheit sagen und auch diese Wähler um Vergebung bitten.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, ist sehr gering.
Sich gegenseitig zuzuhören ist der Weg zur Heilung Amerikas. (Joe Biden)
Quellenverweis: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/sturm-aufs-kapitol-ohne-diagnose-gibt-es-keine-heilung-kolumne-a-967849b8-cd72-4c30-83f6-b6b34b239083